On Voice and Vote

Vortrag von Helmut Draxler zur Festveranstaltung der Akademie der bildenden Künste anlässlich Diedrich Diederichsens 60. Geburtstag im November 2017

Ich möchte mich im Folgenden mit einer einzigen Frage beschäftigen. Sie lautet: Wie kann ich mir sicher sein, dass meine Stimme als voice und als vote gehört oder erhört wird? Diese Frage deutet bereits an, dass es bei der Stimme nicht nur darum geht, dass sie erhoben wird, sondern auch, dass diesem Erheben etwas entsprechen muss, eine Art von Resonanz, die ich hier mit den Begriffen hören und erhören zu beschreiben versuche. Es geht also weder um die reine Artikulation von Lauten, um das “Erzittern” des phonetischen Materials, als das Hegel die Grundlagen der Musik bestimmt, noch um ein reines Hören. In der Stimme – sowohl als voice als auch als vote – wird etwas ausgesprochen, dass gerade nicht zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus gehen soll, und dass sie daher als reinen Durchlauf verstehen ließe. Vielmehr soll in diesem Hören und Erhören die Stimme auf- und angenommen werden, und das, was sich in ihr ausdrückt verwahrt, erwogen und handlungsleitend berücksichtigt oder umgesetzt werden. Meine Stimme würde dann nicht im Leeren verhallen, und trotz der konstitutiven Vergänglichkeit eines jeden Lautes, wäre damit der Vergeblichkeit meiner kläglichen Existenz getrotzt und ein sozialer Sinn behauptet, den ich nicht in mir selbst finden kann. Die Stimme appelliert also, und das Verb “erhören” impliziert bereits eine Instanz, an die appelliert werden kann.

Wie kann eine solche Instanz beschaffen sein? Und was, wenn sich erweisen sollte, dass eine solche Instanz, an die ich appellieren könnte, gar nicht existiert, wenn weder Gott, Partei oder Kaiserin als letzte Instanzen zur Verfügung stehen? Wir leben ja in der alltäglichen, medio-kratischen Zwickmühle, dass wir zwar ständig an eine solche letzte Instanz des Erhört-Werdens appellieren, gleichzeitig aber nicht bereit sind, irgend einer konkreten Person eine solche Kompetenz zuzugestehen. Jeder mögliche Versuch eine solche Position einzunehmen, wäre bereits eine fundamentalistische Anmaßung.

Wie kann nun mit dieser Zwickmühle umgegangen werden?

Eine erste klassische Antwort lautet: Wenn uns niemand erhört und wenn wir auch nicht wollen, dass uns eine konkrete Person überhaupt erhören kann, dann sprechen, singen und votieren wir eben gemeinsam. In der Gemeinschaft der Gleichen, des Gemeinwillens, der Volkssouveränität oder in der Schiller’schen ästhetischen Geschmacksutopie, in der sich alle gemeinsam und gleichzeitig in Freiheit und Harmonie auszudrücken verstehen, bestehe keine Notwendigkeit des Erhört-Werdens mehr. In der Stimme als reinem Ausdruck verstanden verschwindet die Differenz nicht nur von Individuum und Kollektiv, sondern auch die von aktiver Aussage und passiver Hinnahme/Affizierung. Das Problem besteht jedoch darin, dass wenn alle gleichzeitig in Freiheit (absolutely free!) sprechen, singen oder wählen, eine daraus entstehende Harmonie höchst unwahrscheinlich ist. Einfach deshalb, weil die Harmonik gerade darin besteht, bestimmte Ton-verbindungen vor anderen als harmonisch zu privilegieren. Und natürlich hört auch niemand mehr zu, weil alle mit Sprechen, Singen und Wählen beschäftigt sind. Aktivität und Passivität können ebenso wenig miteinander verschmolzen werden wie Sprechen und Hören, weil die Stimme gerade diese Differenz erst aufruft. Sie verlangt nach dem Resonanzraum des Gehört Werdens, um überhaupt sich als Stimme begreifen zu können. Daher kann die Stimme nie reiner Ausdruck werden; sie verbleibt im Geschäft der Aufteilungen und der kommunikativen Unstimmigkeiten.

Eine zweite Antwort auf die eingangs erwähnte Zwickmühle könnte folgendermaßen aussehen: Wir extrapolieren aus den alltäglichen, individuellen Erfahrungen unseres sozialen Zusammenseins eine Instanz, die exemplarisch die Abwesenheit einer finalen Entscheidungsinstanz zu verkörpern in der Lage ist, die also keine konkrete Person sein darf und an die wir doch ungebrochen appellieren können: als eine solche Instanz ließe sich die Gesellschaft begreifen. Die Frage hier lautet nicht, ob Gesellschaft überhaupt existiert, sondern nur, wie sie ihre symbolische Funktion – die Repräsentation einer abwesenden Entscheidungsinstanz wahrzunehmen in der Lage ist. An die Gesellschaft kann ich zwar appellieren – und die meisten von uns tun dies Tag für Tag – erhören kann uns Gesellschaft allerdings nur in Form institutioneller Realitäten, für die typisch ist, dass sie das Versprechen der Gesellschaft als Repräsentation der abwesenden Entscheidungsinstanz, somit als Totalität, nicht ausfüllen können, und damit gesamt-gesellschaftlich gesehen, kategorisch bloß Stückwerk bleiben. Deswegen kann der Appell an die Gesellschaft nur bedingt erhört werden; im subjektiven Gefühl der Appellierenden erscheint dies als konstitutiver Mangel, als ein Unzureichendes, weil keine institutionelle Bestätigung mehr ausreichend wäre hinsichtlich des Erwartungshorizonts, den Gesellschaft erweckt und wofür sie einstehen soll.

Die Stimme als voice verlangt also konstitutiv nach Zuhörenden, die zumindest für Augenblicke das je eigene Sprechen oder Singen aussetzen, sich den passiven Vermögen und Vergnügen widmen und damit der Stimme erst ermöglichen, im eigentlichen Sinne zu sprechen. Beispielhaft ließe sich der Chor als eine soziale Form nennen, in der Aspekte von Gemeinschaft wie Gesellschaft instituiert sind. Denn zweifellos muss ich im Chor sowohl hören als auch singen, aber gerade der Chor setzt wiederum Zuhörer_innen, sogar in der möglichst idealen Position des Hörens, voraus. Die Zuhörer_innen hören, aber sie gehören nicht zum Chor; die Sänger_innen hören sich wechselseitig, aber sie erhören einander nicht. Und die Zuhörer_innen erhören den Chor wiederum nur als Repräsentanten einer Instanz, die nicht existiert.

Auch für die Stimme als vote gibt es keine Gemeinschaft der Wählenden bzw. der Wählenden und der Erwählten, in der die Frage ihres Erhört-Werdens aufgehoben wäre. Es gibt stets nur Gewinner und Verlierer von rituell abgehaltenen Wahlen. Auch das Gewinnen einer Wahl bleibt daher trügerisch. Wahlen sind keine Entscheidungsschlachten; es kann in ihnen zu keinem wahren Erhört-Werden kommen. Nach der Wahl ist vor der Wahl, und jede Mehrheit ist vorübergehende Mehrheit, die die Minderheit nur umso mehr anzustacheln scheint, nun ihrerseits endgültig erhört werden zu wollen. Die Frage des Umgangs mit der jeweiligen Minderheit, denjenigen, die augenblicklich nicht bzw. weniger erhört wurden, scheint mir ebenso grundlegend zu sein, wie die Frage, wer in der Wahl überhaupt als Entscheidungsinstanz adressiert wird: das Volk, die Bevölkerung, die Klasse oder die Biosphäre. Es gibt ja schließlich auch noch diejenigen, die nicht als Wählende zugelassen sind; und es gibt, wie in letzter Zeit des Öfteren zu hören, die Dinge, Pflanzen und die Tiere, die zunehmend selbst wählen möchten.

Beide Modelle können daher die Sehnsucht nach dem Erhört-werden nicht befriedigend beantworten. Beide stellen keine Sicherheiten hierfür bereit, dass meine Stimme tatsächlich gehört und erhört wird.

Sowohl gegen die Idee des Gemeinwillens und die Schiller’sche Utopie der ästhetischen Gemeinschaft auf der einen Seite als auch gegen die regulative Idee einer abstrakten Gesellschaft auf der anderen hatte Hegel eine dritte Antwort vorgeschlagen. Sie beruht darauf, dass wir uns wechselseitig anerkennen. Dies impliziert, dass wir die Rollen zwischen Sprechenden/Singenden und Zuhörenden, Mehrheit und Minderheit immer wieder vertauschen bzw., dass wir uns im Austausch miteinander überhaupt erst über diese Rollen klar werden. Hegel zufolge ist dies allerdings alles andere als ein friedlicher Prozess. Wechselseitige Anerkennung ist nur im Kampf um Anerkennung zu haben, und dieser Kampf – ein Kampf auf Leben und Tod - wurzelt in der fundamentalen Auseinandersetzung zwischen Herr und Knecht, aus der einzig das nötige Selbstbewusstsein über die eigene Rolle gewonnen werden kann.

Marx hat bekanntlich dieses Moment des Kampfes zum universalen Klassenkampf ausgeweitet, während die jüngere Frankfurter Schule – in den 1970er Jahren wohl etwas müde geworden von den klassenkämpferischen Rhetoriken - die wechselseitige Anerkennung zu einer friedfertigen und idealen Form des kommunikativen Handelns im demokratischen Prozess stilisieren wollte. Das letztere Argument übersieht jedoch die spezifische und kategorische Gewaltförmigkeit von Anerkennungsprozessen, die zwar vielleicht nicht identisch sind mit der Ausübung unmittelbarer Gewalt im Sinne des Verhältnisses von Herr und Knecht, so doch mit den besonderen Formen einer vermittelten Gewalt, wie sie von der Soziologin Heide Gerstenberger als für die bürgerlichen Gesellschaften typische Formen der “subjektlosen Gewalt” beschrieben worden sind. An eine subjektlose Gewalt kann nicht mehr direkt appelliert werden, und sie kann uns deshalb auch nicht erhören. Sie bleibt dennoch Gewalt, wie wir sie an der Gewalt der Rechtssetzung, der Verfügungsgewalt über die ökonomischen Produktionsmittel, der kultureller Distinktionsgewalt oder auch an unterschiedlichen Formen sozialer Gewalt wie etwa der patriarchalen, hetero-normativen Gewalt ihren spezifisch modernen Formen festmachen können. Typisch für diese Formen der Gewalt ist, dass wir ihnen nicht restlos unterworfen sind; dass wir sie vielmehr als Macht immer auch voraussetzen, beanspruchen und ausüben, wenn auch aus unterschiedlichen Positionen heraus. Bereits Hegel hatte in seiner Vorstellung von bürgerlicher Gesellschaft klar gesehen, dass in ihr die Brutalität des endlosen Kampfes um Anerkennung der vielen Beziehungen wegen, die durch die Arbeitsteilung vermittelt sind, abgemildert wird. Der Heroismus des Kampfes schwindet, und doch ist es gerade die zunehmende Individualisierung, die dieses sich ausbreitende “System der Bedürfnisse” der bürgerlichen Gesellschaft etabliert, in und durch die sich das Problem der wechselseitigen Anerkennung erst eigentlich stellt. Die Arbeit des Knechtes transformiert sich hier zu einer Art von populären Kultur, in der der Knecht zu hören und zu horchen lernt und nicht mehr nur gehorchen muss. Und je individueller er – also wir - darin sein will – indem ihm/uns erlaubt wird, seine/unsere Bedürfnisse immer spezifischer zu artikulieren – desto stärker wird auch der Wunsch danach, in dieser jeweiligen Individualität anerkannt zu werden. Allerdings haben wir bisher noch keinen überzeugenden Modus gefunden, in dem die einen ihre Individualität ausdrücken können und sie von den anderen hierfür anerkannt werden. Vielmehr treten wir uns ständig gegenseitig auf die Füße im Versuch, ein bisschen mehr an Individualität und an Anerkennung zu erhalten und möglichst wenig dafür preisgeben zu müssen. Die Wechselseitigkeit der Anerkennungsprozeduren scheint mir sogar konstitutiv nur über die Etablierung von Hierarchien und Macht möglich, weil die Anerkennung unter wirklich Gleichen eben wenig Wert als Anerkennung hätte, und – so steht zu befürchten – deshalb unserem jeweiligen Individualitätsbegehren nicht entsprechen kann.

Müssen wir uns deshalb die Vorstellung eines endgültigen Erhört-Werdens als narzisstische Fantasie ebenso wie als politisch-theologischen Rest im Sinne der Erinnerung an eine personale Form der Verkörperung von Macht einfach abschminken? Oder ist ein 4. Modell denkbar, dass der “subjektlosen bürgerlichen Gewalt” besser gerecht würde? In diesem Sinne müsste etwa ein Chor als Modell heutiger Vergesellschaftung oder Vergemeinschaftung die subjektlose Gewalt als jene Form von Macht annehmen, der wir nicht nur unterworfen sind, die wir vielmehr immer auch ausüben. Seine Stimme kann daher kein “ätherischer Körper” mehr sein – auch das ist eine Hegelianische Referenz -, der uns unmittelbar in das Volk oder die Polis einschwingt. Vielmehr kennzeichnet der Raum, den die Stimme als voice wie als vote einnimmt den Resonanzraum der unerhörten Subjektivität, verstrickt in ihre imaginären, perspektivischen und kompetitiven Artikulationsversuche. Der Chor kann deshalb den Mangel an Sein weder auf Seite der Singenden noch der Hörenden beheben; er kann sich weder apollinisch an der Harmonie der Welt bewähren noch dionysisch sich dem Rausch der Zerstörung hingeben. Die reine Dissonanz wäre in diesem Verständnis ohnehin nur eine andere Form der reinen Harmonie und umgekehrt. Stattdessen müssen Harmonie und Dissonanz ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, um die kategorische Ambivalenz von Appell und Gewährung, von insinuierter Ohnmacht und aktualisierter Macht, von Stimme als Ausdruck und als Anspruch ins Werk zu setzen. Hierfür bedarf es einer Idee von Gesellschaft oder Gemeinschaft, die sich im oder als Chor zeigt, und der gleichzeitig die einzelnen Singenden und Hörenden in der unaufhebbaren sozialen Differenz ihrer Aussagepositionen angehören. Die Ambivalenz lässt sich in diesem Sinne nicht aufheben, weder durch Affirmation noch durch die reine Kraft der Negation. Sie muss vielmehr angenommen und gestaltet werden, indem die Unstimmigkeit der Stimme, ihr Nicht-Zugehöriges und ihr Un-Erhörtes zum „Erzittern“ gebracht wird. Eine Form der transitorischen und letztlich vergeblichen Zugehörigkeit mag darin aufscheinen, die wir ein Leben nennen können.