Algorithms Apps and Echoes

Programmreihe Raise and Un-Raise Your Voices! Choirs in Moving Images im mumok Kino, kuratiert von Marietta Kesting und Constanze Ruhm

16., 30. November, 7. Dezember 2022

Musikalische und rhythmische Töne produzieren zu können, ist eine Fähigkeit, die Menschen, Maschinen und Tiere, insbesondere Vögel, verbindet. Das Vortrags-, Film- und Live-Programm möchte an drei Abenden historische und zeitgenössische (Protest-)Chöre, „Singspiele“ und Bild-Tonexperimente im mumok kino zur Aufführung bringen. Neben Fragen zu performativen Ästhetiken und dem historischen Rückbezug auf Oralität, der Spannung zwischen „liveness“ und technischer Aufzeichnung sowie den Akten des Verlautens und Hörens zeigen sich hier signifikante Versuchsanordnungen einer sozialen künstlerischen Praxis, die vor allem davon handelt, dass jemand „die Stimme erhebt“. Dies kollektiv oder alleine zu tun ist dabei stets auch ein politischer Akt. Geprägt von unterschiedlichen Klangstrategien von Musiker*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und auch Maschinen werden Auf- und Ausrufe, Anrufungen, Beschwörungen, Befragungen hörbar, sichtbar und erfahrbar.

Lokal wie international existieren unterschiedlichste Experimente mit Chören und (Live-)Performances zwischen Kunst, Musik und Bewegtbild in vielfältigen Überschneidungen, wie beispielsweise in Arbeiten aus dem afroamerikanischen Kontext von Jace Clayton (Omnipresence), in Installationen jüngerer österreichischer Künstlerinnen wie Marlies Pöschl, oder in den Performances des von Constanze Ruhm und Florian Paul Ebner gegründeten queer-feministischen Chors MALA SIRENA. Während man bei politischen Wahlen seine Stimme „abgibt“ oder sich auch enthalten kann, behält man in einem Chor die eigene Stimme, die sich mit anderen Stimmen addiert und so temporär Teil einer multivokalen Kollektivität wird. In chorischen Formaten und ihren vielfältigen Neu-Interpretationen werden somit neue Kollektivitäten und Kooperationen erprobt. Eine feministische und queere künstlerische Praxis, die oft mit Forderungen nach einer anerkennenswerten und inklusiven Sichtbarkeit einherging, wird nun teilweise über kollektive Formate der Hörbarkeit, des lautstarken Protests, aber auch einer neuen Pleasure-Politik des „Ansingens gegen die Macht und Ungerechtigkeiten“ erweitert.

Teil 3: RESONANCE / ALGORITHMS

Dieses Programm versammelt Werke, die Themen wie Resonanz und Echo zum Ausgangspunkt nehmen, um die Beziehungen zwischen analogen sowie digitalen, algorithmischen Formen visueller und sonischer Aufzeichnungs- und Darstellungsverfahren in Szene zu setzen. Zuletzt tritt der queer-feministische Chor MALA SIRENA mit einem Medley auf, das sich als Echoraum der gesamten Reihe versteht: Anrufung, Ermächtigung, Beschwörung, Protest, Resonanz, Widerhall und Kollektivität. Des souffles, tout simple comme le vent von Marlies Pöschl ist ein Performance-Film, der eine mögliche Zukunft von care work und verschiedene Intraaktionen mit Objekten, die uns umgeben, imaginiert: Gemeinsam mit dem Chor la Clé des chants interagiert eine Gruppe von Senior*innen stimmlich mit Live-Electronics. Diese Komposition ist das Resultat eines kollaborativen Projekts mit den Perfomer*innen und experimentiert mit den Klängen, Tönen und Geräuschen jener Maschinen, von denen die Senior*innen in ihren täglichen Abläufen umgeben sind. Der Film This Year’s Girl von İpek Hamzaoğlu, Laura Nitsch, and Sophie Thun (produziert vom Hekate Film Collective) erzählt von einem fiktionalen Kollektiv namens images of / off images, das mit einer Auftragsarbeit, nämlich einer filmischen und fotografischen Dokumentation zum Beitrag der Künstlerin Renate Bertlmann im österreichischen Pavillon der Biennale von Venedig 2019 beschäftigt ist. Die Mitglieder dieses Kollektivs, dargestellt von den Filmemacherinnen selbst, werden zu Beobachterinnen ihrer eigenen Beobachtungen. So wird deutlich, wie unscharf die Grenzen zwischen Kunst- und Auftragswerk, Dokument und Fiktion, Arbeit und Freizeit, von kollektiver, kollaborativer und individueller Arbeit verlaufen. Und nicht zuletzt steht der Chor MALA SIRENA vor der Kamera: „Being part of a choir is just another way to work collectively. Where the result becomes so much more than voices adding up, in other words, one voice upon another voice upon another voice. Rather, they rise in a polyphony together that becomes a body larger than their individual parts. The camera – sometimes in the rhythm of the choir’s sound – pans across the room, at times almost beyond recognition, just to stop on one of the faces. The imagery could be read as a metaphor for modes of listening to a choir, where only rarely a singular voice can be distinguished from the multitude. Only plurality is able to create this specific kind of music, and more distinctly, this very specific kind of film.“ (Juliane Saupe).

Programm

Marlies Pöschl, Simple whistles, just like wind, 2020, 20 min
İpek Hamzaoğlu, Laura Nitsch, Sophie Thun (Hekate Film Collective), This Year’s Girl, 2020, 52 min
MALA SIRENA, Algorithms, Apps and Echoes, 2022, live performance

Vorgestellt von Marietta Kesting und Constanze Ruhm. Im Anschluss an das Filmprogramm Gespräch mit İpek Hamzaoğlu, Laura Nitsch, Marlies Pöschl und Sophie Thun.

Teil 2: WORKING / AGENCY

Dieser Abend beschäftigt sich im Kontext medialer Übertragungen mit Stimmen, die sich erheben: Das damit verbundene Thema der Selbstermächtigung (agency) wird auch im Hinblick auf Formen von sichtbarer, unsichtbarer oder verschwundener, hörbarer, unhörbarer, noch zu verrichtender, unverrichteter oder auch unverrichtbarer Arbeit untersucht. Ausgangspunkt ist Wendelien van Oldenborghs Werk No False Echoes – ein Titel, der eine Warnung, eine einfache Aussage oder vielleicht auch eine Frage sein könnte. Der Film erzählt im Kontext der historischen niederländischen Kolonialpolitik von den ersten Radioverbindungen zwischen den Niederlanden und der damaligen Kolonie Niederländisch-Ostindien (niederländisch Nederlands-Indië, indonesisch Hindia-Belanda) bei denen die Philips-Rundfunkgesellschaft PHOHI sowie der Sender Radio Kootwijk entscheidende Akteur*innen waren: eine koloniale Echokammer, die jede kritische und abweichende Stimme zum Schweigen bringen sollte. Pana Ha'geshem (The Rain is Gone) von Noam Enbar handelt von Asylwerber*innen aus Eritrea und dem Sudan, die im Holot Detention Center in Israel festgehalten werden – Menschen in der Schwebe und ohne Perspektive, die weder in ihr Heimatland zurückkehren können, noch irgendeine Aussicht auf Einreise nach Israel haben. Ein Chor „rechtloser“ Stimmen nimmt sich das – wenn auch nur metaphorische – Recht, sich zu erheben: Improvisiert wird eine Komposition von Noam Enbar, die auf einem populären israelischen Lied basiert, das landwirtschaftliche Traditionen beschwört. Doch für die in Holot Festgehaltenen gibt es keinen Regen, auf den man wartet, kein Land zu bearbeiten, sondern bloß diesen perspektivlosen Ort eines vermeintlichen Übergangs, der hier auf Dauer gestellt ihren Leben staatliche Gewalt einschreibt. Sounds From Beneath von Mikhail Karikis imaginiert die (historische) Klanglandschaft eines aufgelassenen Kohlebergwerks: Der Künstler inszeniert einen Bergarbeiterchor, der die industriellen Geräusche der Arbeit in einem Bergwerk erinnert und vokalisiert. Die ehemaligen Bergarbeiter erheben ihre Stimmen, um die Vergangenheit körperlicher Schwerstarbeit als klangliche Erinnerung zu evozieren, als die Spur einer Vergangenheit, die auch ihren Gesichtern und Gesten eingeschrieben bleibt. Den Abschluss des Programms bildet der Kurzfilm A Film About the Desire to Make it Work von Franzis Kabisch und Laura Nitsch, in dem mehrere Stimmen gleichzeitig zu Wort kommen, manche andere aber versagen. Eine Radiomoderatorin verliert ihre Stimme – oder vielleicht wird sie von den anderen einfach nicht gehört? Im Gegenzug „spricht ein trauernder Chor zu ihr – nicht mit Worten, sondern mit Klängen, Geräuschen und Körpersprache" (aus dem Text der Künstlerinnen).

Programm

Wendelien van Oldenborgh, No False Echoes, 2008, 31 min
Noam Enbar, Pana Ha’Geshem (The Rain is Gone), 2016, 17 min
Mikhail Karikis, Sounds From Beneath, 2011–2012, 7 min
Franzis Kabisch & Laura Nitsch, A Film About the Desire to Make it Work, 2018,28 min.

Teil 1: INVOCATION with Jace Clayton

Der afroamerikanische Autor, Künstler, Musiker und DJ Jace Clayton wird einige Werke vorstellen, zu denen sowohl Arbeiten mit Chören gehören, die gegen Überwachungs-Flutlichter im Stadtraum ansingen, als auch solche, die sich mit der Analyse technischer Glitches und politischer Soundkulturen beschäftigen. Dadurch werden Kategorien in Frage gestellt, die davon handeln, was als „technisch“ und „künstlich“ und was als „natürlich“, „menschlich“ oder „analog“ gilt. Denn wie Nina Sun Eidsheim bemerkt: „Die Stimme besteht aus mehreren körperlichen Organe, die bei der Produktion des Klangs beteiligt sind, den akustischen Bedingungen, in denen sie ausgesandt und empfangen wird, und dem Stil und der Technik, die lebenslang ausgebildet werden, dem, was Farah Jasmine Griffin den ‚kulturellen Stil‘ nennt.“ (1) Das englische Wort „invocation“ beinhaltet sowohl die „Stimme“ als auch den „Ruf“. Der Ausdruck wird verwendet, wenn es darum geht, Gesetze, Autorität oder Privilegien in Kraft zu setzen oder sich auf andere höhere Mächte, wie auch auf Magie zu berufen. Es ist mit dem Verb „evoke“ verwandt, das in erster Linie im Sinne von "hervor- oder herbeirufen" verwendet und häufig in Verbindung mit Konzepten von Erinnerung, Emotion oder Empathie eingesetzt wird. Auch Alexander G. Weheliye betont, dass gerade in der afroamerikanischen Musikkultur Stimme und Technologie miteinander verbunden sind: "Diese nachhallenden Anstöße verstärken auch die integrale Verflechtung von Klang und Technik in der modernen Ära und unterstreichen einige der Möglichkeiten von Klangtechnologien, ein wesentliches Element des musikalischen Textes zu sein und nicht nur eine Ergänzung zu dessen Entfaltung.“ (2) Gesang, Musik und Sound sind alternative Kommunikationssysteme, die Geschichte als Ritual befragen und Rhythmus als eine Technologie einsetzen, die rituelle und kodierende Möglichkeiten vereint. Um sich dem anzunähern, was unter den Ebenen des unmittelbar Wahrnehmbaren liegt, werden temporäre Resonanzräume hergestellt, in dem die Übergänge zwischen belebten und unbelebten Akteur*innen, zwischen Spiritualität und Technologie, verschiedenen Zeitordnungen und Ideologien fließend werden. Gleichzeitig beinhaltet (Live-)Sound – ein Ton entsteht, indem er vergeht – auch Erinnerung an Formen spekulativen Wissens, als etwas Flüchtiges, (Un-)Dokumentierbares, sich der Überwachung Widersetzendes.

(1) Nina Sun Eidsheim, The Race of Sound: Listening, Timbre, and Vocality in African American Music (Durham: Duke University Press, 2018), S. 10. Deutsche Übersetzung: Marietta Kesting.
(2) Alexander G. Weheliye, Phonographies: Grooves in Sonic Afro-Modernity (Durham: Duke University Press, 2005), S. 2. Deutsche Übersetzung: Marietta Kesting.

Performance

Im Rahmen der Katalogpräsentation zur Ausstellung UNA PUPILLA AL VARIARE DELLA LUCE von Constanze Ruhm im belvedere21 fand am 22. Juni 2023 eine weitere Aufführung des Programms ALGORITHMS, APPS AND ECHOS statt:

Das Programm, das im Rahmen der Katalogpräsentation zur Ausstellung UNA PUPILLA AL VARIARE DELLA LUCE von Constanze Ruhm zur Aufführung gebracht wird, nimmt die mythologische Figur der Echo zum Ausgangspunkt, die auch in der Videoinstallation A SHARD IS A FRAGMENT OF A LIFE eine zentrale Figur darstellt. Es versammelt Songs, die mit Echo verbundene Themen wie Resonanz, Wiederholung und Variation zum Ausgangspunkt nehmen, um verschiedene Beziehungen zwischen analogen sowie digitalen, algorithmischen musikalischen Fragmenten in Szene zu setzen. Das Medley versteht sich als sonischer Echoraum der Ausstellung, indem es Themen wie Anrufung, Ermächtigung, Beschwörung, Resonanz, Widerhall und Kollektivität musikalisch evoziert.

Besetzung & Referenzen

Programmreihe Raise and Un-Raise Your Voices! Choirs in Moving Images

Chorleitung: Florian Paul Ebner, Constanze Ruhm
Electronics: Sebastian Meyer

Sänger*innen: Sophia Ausweger, Catharina Ballan, Juliane Beer, Jonas Bohatsch, Martin Burk, Vasilena Gankovska, Birke Gorm, Julia Hartig, Pille Riin Jaik, Nazira Karimi, Vivian König, Lisa Lehner, Sabine Marte, Sebastian Meyer, Jan Hendrik Müller, Berenice Pahl, Marlies Pöschl, Victoria Preuer, Constanze Ruhm, Judith Rücker, Lena Rücker, Lena Schwingshandl, Eva Simsic, Borjana Ventzislavova, Alain Volpe

Kamera: Mara Chavez, Sam Fuentes

Ausstellung UNA PUPILLA AL VARIARE DELLA LUCE

Chorleitung: Petra Anlanger, Constanze Ruhm
Electronics: Markus Taxacher
Arrangements: Florian Paul Ebner

Sänger*innen: Sophia Ausweger, Catharina Ballan, Juliane Beer, Jonas Bohatsch, Vasilena Gankovska, Julia Hartig, Valerie Holfeld, Pille Riin Jaik, Carmen Kalata, Viktoria Kirner, Lisa Lehner, Sabine Marte, Berenice Pahl, Marlies Pöschl, Victoria Preuer, Carolina Rotter, Constanze Ruhm, Judith Rücker, Lena Rücker, Viktoria Schmid, Eva Simsic, Alain Volpe

Referenzen: Erykah Badu, Holly Herndon, Janelle Monae, Meredith Monk, Space Lady, Le Tigre, FKA TWIGS

Thousand eyes watch earth from above
covered in the dirt of algorithms
and
Echo‘s body dispersed across the planet
in shards and
still singing
though re-trained and synthesized anew
now in a new and spectral shape

Let’s just get off the internet
so we can see her for real
perhaps hear her
just for a moment